Immer mal wieder erblicken kleine, aber feine Spielerfahrungen das Licht der Welt, die es ganz offensichtlich nicht mit großen Blockbustern oder Budgets aufnehmen könnten, aber dennoch nicht weniger Eindruck hinterlassen. Das Schwierige hier ist eher, auf solche Titel überhaupt aufmerksam zu werden.
Eines dieser Spiele ist der kürzlich erschienene VR-Puzzle-Platformer “Anyone’s Diary” von World Domination Project, die in ihrer Art weitaus mehr Tiefe und Sinnhaftigkeit besitzen, als der xte Shooter, der im jährlichen Rhythmus vom Band läuft. Zugegeben, hätte man mir den Review-Code nicht einfach zugeschickt, wäre auch “Anyone’s Diary” vermutlich spurlos an mir vorbei gegangen. Umso schöner ist es nun aber, diese Erfahrung nicht verpasst zu haben.
Vorwissen kann hilfreich sein
“Anyone’s Diary” ist einer der Titel, bei denen etwas Vorkenntnisse gar nicht mal so verkehrt sind, denn die Geschichte wird hier vollständig durch das Spiel, das Erlebte darin und die Bilder erzählt, die man zu Gesicht bekommt. Keine Einleitung, keine Erklärung worum es gehen soll, einfach nichts. Laut dem Entwickler erfährt man in “Anyone’s Diary” eine psychologische Reise einer Persönlichkeit ohne Identität, Geschlecht oder Alter, dessen Ängste und Hoffnungen ihr auf diesem Weg entdecken werdet. Parallelen kann man hierbei zur einstigen PS3-Perle “rain” ziehen, die einen sehr ähnlichen Ansatz verfolgte. Durch die VR-Komponente von “Anyone’s Diary” verleiht man dem Ganzen allerdings das zusätzliche Level der Immersion, was einen deutlich tiefer in das Spiel hineinzieht und den Charakter für einen greifbarer macht. In diesem Punkt kann man nicht oft genug betonen, wie sehr sich VR-Spiele von herkömmlichen 2D-Erfahrungen unterscheiden, und warum genau das auch der besondere Reiz daran ist.
Über die Story an sich kann man im Grunde gar nicht so viel sagen, da diese jeder für sich selbst interpretieren wird, und hier symbolisch in einem Tagebuch voller Erinnerungen und Erfahrungen geschrieben wurde, die der Charakter im Positiven oder Negativen aufarbeitet. Das Vorwissen ist dabei ein wenig hilfreich, um zumindest ein Grundgerüst zu haben, auf das man dann aufbauen kann. Am Ende stand für mich eine kleine und charmante Erzählung mit viel Eigeninterpretation, einem sehr künstlerischen Ansatz und dem erneuten Beweis, dass man daran wohl öfters zurückdenken wird, als an den besagten Shooter vom Band. Da ist es auch nicht so tragisch, dass die Geschichte nur über drei Kapitel erzählt wird, die zudem relativ schnell abgearbeitet sind. Dafür lohnt sich das mehrmalige Durchspielen, um die verschiedenen Enden zu erleben oder mal alternative Wege zu gehen, je nachdem, wie anspruchsvoll die Rätsel für euch sind. Letztendlich zählt am Ende allein die persönliche Erfahrung, die zurückbleibt, und die war mal wieder außergewöhnlich.
Eine “völlig neue” Spielweise
Als die Entwicklung von “Anyone’s Diary” begann, traf die Bezeichnung “eine völlig neue Spielweise” sicherlich noch zu. Inzwischen gibt es recht ähnliche Ansätze zum Beispiel in “Moss” oder “Astro Bot”, die das Platformer-Genre damit ein wenig revolutioniert haben. “Anyone’s Diary” verspricht dennoch eine Eigenart, die es so bisher noch nicht gab.
Ganz typisch für einen Platformer läuft man hier von links nach rechts, überwindet Hindernisse, stürzt sich in Abgründe und löst Rätsel. Als Spieler blickt man dabei durch die sogenannte vierte Wand auf das Level und den Charakter. Wie für VR-Platformer inzwischen gewohnt, kann man sich als Spieler direkt in die Level hinein lehnen, um Ecken herum schauen, näher an den Charakter heranrücken und so alles hautnahe erleben. Ein kleiner Unterschied in “Anyone’s Diary” besteht darin, dass man das Level per Hand von links nach rechts verschiebt, es an sich heran zoomt oder aus der Ferne betrachtet, was noch detailliertere Einblicke erlaubt. Das kann zuweilen etwas verwirrend mit der Steuerung sein, abhängig davon, ob man gerade mit Objekten interagiert, die sich zusätzlich in den Level verschieben lassen, um etwa den weiteren Weg zu bereiten. Das alles wirkt etwas fummelig! Vor allem wenn man mit dem DualShock 4 Controller spielt, ist die Steuerung nicht ganz so geglückt. Daher empfehle ich auch mindestens einen Move Controller, was das Ganze deutlich intuitiver gestaltet. Noch besser wäre es allerdings gewesen, die Level-Interaktionen und die Bewegung des Charakters auf beide Move Controller zu verteilen. So oder so beweist “Anyone’s Diary” aber auch in diesem Punkt, wo die Vorzüge und die besondere Erfahrung von VR liegt. Man wird Teil des Spiels und kann quasi physischen Einfluss auf diese ausüben.
Eine Welt aus Papier
Ein besonderes Augenmerk galt zudem dem visuellen Look, bei dem sich die Spielwelt von “Anyone’s Diary” aus gefaltetem Papier präsentiert, mit fein von Hand bemalte Texturen ausgeschmückt und einem prägendem Look, der für sich steht. Ich möchte nicht behaupten, dass die Idee dazu jetzt völlig neu ist, sie ist jedoch nicht alltäglich und trägt somit zu einem markanten Merkmal des Spiels bei. Und trotz dessen, dass es sich bei “Anyone’s Diary” um ein Indie-Projekt handelt, spart man nicht mit überraschenden und wunderschönen Effekten. Das fängt schon bei der Darstellung der Move Controller im Spiel an, die ausnahmsweise keine 1:1 Kopie des Originals sind.
Wer sich einmal in der Welt von “Anyone’s Diary” eingefunden hat, wird sich obendrauf in den seichten und melancholischen Soundtrack verlieren, der passend zur Thematik gewählt wurde und zu keiner Zeit aufdringlich oder gar ermüdend wirkt. Er rundet das restliche Bild einfach nur wunderbar ab.