Mit „Lost Record: Bloom and Rage“ meldet sich Don’t Nod zurück und versucht, an die Erfolge früherer narrativer Abenteuer anzuknüpfen. Nachdem sich die letzten Titel des Studios eher schwergetan haben, kommt nun eine neue IP, die ganz bewusst auf Nostalgie setzt: Die 90er, Coming-of-Age, enge Freundschaften und ein Hauch von Mystery. Doch kann „Lost Record: Bloom and Rage – Tape 1“ überzeugen oder bleibt es nur eine schöne Erinnerung an bessere Zeiten? Das finden wir in unserem Vorab-Review heraus.
Zwischen Vergangenheit und Gegenwart
Im Zentrum der Geschichte steht Swann, eine eher introvertierte Teenagerin, die Schwierigkeiten hat, neue Freundschaften zu knüpfen, aber eine tiefe Leidenschaft fürs Filmen hegt. Sie ist der typische Außenseiter: pummelig, mit roten Haaren und wenig Selbstvertrauen – das perfekte Mobbing-Ziel. Doch durch einen glücklichen Zufall trifft sie auf Nora, Autumn und Kat – ein Trio, das mit eigenen Herausforderungen, Sehnsüchten und Träumen kämpft. Bald entsteht eine enge Verbindung, die den Grundstein für eine berührende Geschichte legt.
Spieler navigieren zwischen zwei Zeitlinien: dem Sommer 1995, in dem die Mädchen ihre prägenden Erlebnisse teilen, und der Gegenwart 2022, in der sie sich nach Jahren der Trennung wieder begegnen und ein Versprechen nach Jahrzehnten einlösen wollen. Was ist damals passiert? Warum haben sie sich entfremdet? Und was steckt hinter den mysteriösen Geheimnissen von Velvet Cove? Über 25 Kapitel erleben Spieler hier einen wahren Nostalgietrip, zu einer Zeit, von der man heute sagen würde: Damals, und als Teenager, war die Welt noch in Ordnung. Das Konzept und Setting erinnert zuweilen an Serien und Filme wie „Yellowjackets“ oder „Now and Then“ – eine Kleinstadt, eine Gruppe junger Freunde und eine dunkle Entdeckung, die alles verändert.
Ein 90er-Jahre-Traum mit düsterem Unterton
Die Kleinstadt Velvet Cove ist perfekt inszeniert: Eine scheinbar verschlafene Idylle mit dichten Wäldern, ruhigen Seen und nostalgischem Kleinstadt-Charme. Man streift durch klassische 90er-Jahre-Schauplätze – eine Garage, die als Punkband-Proberaum dient, das örtliche Kino als Treffpunkt der Teenager, eine verlassene Hütte im Wald. Dazu gesellen sich liebevolle Details wie Tamagotchis, Trollpuppe oder eine „N64“-Konsole – 90er-Jahre-Feeling pur.
Über 80 % der Spielzeit verbringen Spieler in den 90ern – ein kluger Schachzug, denn genau diese Atmosphäre ist die größte Stärke von „Lost Record: Bloom and Rage“, die seit Monaten gespannt auf den Titel blicken lässt. Der Vibe von einst wird perfekt eingefangen, mit all seinen jugendlichen Höhen und Tiefen: Freundschaften, kleine Streitereien, das Gefühl der Unbeschwertheit – und der unterschwelligen Ahnung, dass sich bald alles ändern wird.
Viel Gefühl, mehr Interaktion
Während „Life is Strange“ oft mit übernatürlichen Kräften arbeitete, setzt „Lost Record: Bloom and Rage“ stärker auf zwischenmenschliche Beziehungen. Entscheidungen beeinflussen, wie sich Swanns Freundschaften entwickeln, doch die ganz großen Schicksalsmomente bleiben zunächst aus. Dialoge fühlen sich lebendig an, Gespräche verlaufen organisch, mit der Möglichkeit, zu unterbrechen oder Themen zu wechseln. Diese Natürlichkeit trägt dazu bei, dass sich das Spiel mehr wie eine interaktive Serie anfühlt – allerdings mit der Gefahr, dass es gelegentlich an Tempo verliert.
Ein Punkt, der zudem zunehmend auffällt, ist die sehr einseitige Darstellung von Beziehungen. Alle weiblichen Hauptfiguren scheinen nur gleichgeschlechtliche Tendenzen zu haben, während heterosexuelle Beziehungen kaum eine Option sind und teilweise mit Statements wie „Igitt“ kommentiert werden. Etwas unreif für 16-Jährige, die ansonsten die Forderung nach Inklusion weit vor sich her tragen. Wer sich also auf eine klassische Coming-of-Age-Geschichte mit verschiedenen Perspektiven freut, merkt schnell, dass hier eine sehr spezifische Richtung eingeschlagen wird. Wenn das schon ein Thema des Spiels ist, hätte eine ausgewogenere Darstellung der Romanzen sicher nicht geschadet. Oder warum nicht einfach eine coole Geschichte erzählen, ohne einen klaren Fokus auf eine bestimmte sexuelle Orientierung zu legen?
Zurück zum Game: Spieler können sich meist frei durch die Settings bewegen, Hinweisen nachgehen, spannende Entdeckungen machen oder mit ihrer Kamera filmen und so Momente auf Video festhalten. Dieses Feature steht zugleich für eine umfangreiche Sammelaufgabe, denn aus den Aufnahmen lassen sich im Menü kleine Kurzfilme und Erinnerungen erstellen. Das alles mit der für damals wenig fortschrittlichen Homevideo-Technik, dafür exakt nachempfunden. Ein tolles Feature, mit dem man sich gerne nebenbei beschäftigt. Weitere Sammelaufgaben, das Lesen von Notizbüchern, Briefen usw. sind natürlich auch wieder dabei, um die Figuren und ihre Gedanken besser kennenzulernen oder seine Erinnerungen aufzufrischen.
Lange Anlaufzeit, aber lohnender Payoff
Mit 25 Kapiteln nimmt sich „Lost Record: Bloom and Rage“ extrem viel Zeit, um die Charaktere und ihre Beziehungen aufzubauen. Das ist einerseits eine Stärke – denn selten wurden Teenager-Freundschaften so nahbar dargestellt –, andererseits fehlt es zunächst an Spannung. Wo „Life is Strange“ direkt mit einem packenden Ereignis startete, bleibt „Lost Record“ lange im entspannten Flow eines Coming-of-Age-Dramas.
Doch dann kommt der Wendepunkt: Die geheimnisvolle Hütte im Wald. Plötzlich kippt die Stimmung, das Spiel zieht an und entfaltet einen Mystery-Touch, der einen schwer loslässt. Spätestens hier beginnt das Mitfiebern und Theorien spinnen – genau das, was Don’t Nod-Spiele so besonders macht. Natürlich endet Tape 1 mit einem klassischen Cliffhanger, der neugierig auf die Fortsetzung macht. Die zwei Monate bis Tape 2? Definitiv eine lange Wartezeit.
Melancholie und Nostalgie pur
Ein Don’t Nod-Spiel ohne einen großartigen Soundtrack? Unvorstellbar. Und auch hier wird nicht enttäuscht: „Lost Record: Bloom and Rage“ setzt auf eine stimmungsvolle Mischung aus Dreampop und Indie-Rock mit Künstlern wie Milk & Bone und Beach House. Der eigens komponierte Track „See You in Hell“ fügt sich perfekt in die Atmosphäre ein und unterstreicht die emotionale Tiefe des Spiels, zugleich aber auch die rebellische Ader der Charaktere. Der Soundtrack sorgt für die richtige Mischung aus Melancholie, Nostalgie und einer gewissen Leichtigkeit – genau das, was ein Spiel wie dieses braucht.
Visuell präsentiert sich „Lost Record: Bloom and Rage“ in einem stilisierten Look, der ebenfalls stark an „Life is Strange“ erinnert – allerdings mit noch detaillierteren Grafiken, Gesichtsanimationen, einer stimmungsvollen Farbpalette und dem klassischen Verzerrungsfilter der damaligen Zeit, um so richtig in diesen Vibe einzutauchen.
Kleine technische Probleme wie gelegentliche Clipping-Fehler oder steife Bewegungen gab es zwar, aber nichts, was das Erlebnis ernsthaft trübt. Laut Don’t Nod sollen diese Bugs nach und nach ausgebessert werden. Einziger Wermutstropfen für deutsche Spieler: „Lost Record: Bloom and Rage“ ist nur in englischer Sprachausgabe verfügbar, deutsche Untertitel sind aber vorhanden.
Co-Writer: Niklas